Dauerprovisorium mit grossen Unsicherheiten.

Am 16. März 2020 verfügte der Bundesrat einen schweizweiten Teil-Lockdown. Während Verkäuferinnen und Verkäufer, Pflegende und Logistikerinnen und Logistiker eine grosse Arbeitslast trugen, standen viele Angestellte im Gastgewerbe – vor allem Ausländerinnen und Ausländer – ohne Arbeit da. Besonders hart traf es Menschen mit einem befristeten Arbeitsvertrag und einer Kurzaufenthaltsbewilligung L. Sie konnten von den Massnahmen des Bundes nicht profitieren und gerieten so in wirtschaftliche und soziale Not.

Was der Arbeitsplatzverlust für Menschen mit einer L-Bewilligung bedeutet, zeigt das Beispiel portugiesischer Angestellter im Gastgewerbe im Wallis. Als sie infolge der Betriebsschliessung ihre Anstellung verloren, wiesen die Behörden sie an, die Schweiz innerhalb von fünf Tagen zu verlassen. Einige kamen der Aufforderung nach, andere suchten Rat bei der Gewerkschaft Unia. Diese riet ihnen, eine schriftliche Begründung für die Verfügung zu verlangen. Zwar war es ihnen danach möglich, bis zum Ablauf der Bewilligung in der Schweiz zu bleiben. Sie erhielten aber keine Kurzarbeitsentschädigung, da sie als befristete Angestellte die Kriterien hierfür nicht erfüllten. Die Kurzarbeit wurde im Januar 2021 zwar auf befristete Arbeitsverhältnisse ausgeweitet, für viele kam diese Ausweitung aber zu spät.

Das Beispiel zeigt, wie ungeschützt Menschen mit einer prekären Aufenthaltsbewilligung gerade in Krisenzeiten sind. Das hängt mit der willkürlichen Anwendung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) zusammen. Sie unterscheidet sich von Kanton zu Kanton – manchmal gar von Gemeinde zu Gemeinde.

Kurzaufenthaltsbewilligungen: ein helvetischer Flickenteppich

Die L-Bewilligung wird für einen bestimmten Zweck und eine befristete Dauer von maximal einem Jahr ausgestellt. In begründeten Ausnahmefällen kann die L-Bewilligung auf zwei Jahre verlängert werden, zum Beispiel, wenn damit verbundene Projekte oder sonstige Vorhaben noch nicht zu Ende geführt worden sind. Darüber hinaus kann die L-Bewilligung auch für Aufenthalte ohne Erwerbszweck, etwa im Rahmen von Ausbildungen, Forschungstätigkeiten oder einer medizinischen Behandlung in der Schweiz erteilt werden.

Das Ausländer- und Integrationsgesetz wie auch das Personenfreizügigkeitsabkommen halten eindeutig fest, dass in allen Fällen der fristlosen Anwesenheit die Aufenthaltsbewilligung ausgestellt werden muss.

Die Bewilligungspraxis im Flickenteppich Schweiz sieht anders aus. Einige Kantone erteilen beim Stellenantritt eine L-Bewilligung, selbst wenn der Arbeitsvertrag unbefristet ist und die zugezogene Person die Absicht hat, in der Schweiz zu bleiben. Begründet wird dies oft mit fehlenden Kontingenten bei den Jahresaufenthaltsbewilligungen (Spescha et al. 2019: 165). Diese Praxis widerspricht allerdings der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers und lässt die berechtigten Interessen der ausländischen Arbeitnehmenden auf eine stabile Aufenthaltsbewilligung und einen bewilligungsfreien Stellenwechsel ausser Acht.

Ausländerpolitik in der Hand wirtschaftlicher Interessen

Nach wie vor ist die schweizerische Ausländerpolitik mit der Wirtschaftspolitik verknüpft. Ausländerinnen und Ausländer sollen hier arbeiten und zum Wohlstand beitragen, aber nicht von den Sozialwerken profitieren können und ausreisen, wenn sie der Arbeitsmarkt nicht mehr benötigt. Hier kommen die L-Bewilligungen ins Spiel. Wie die Portugiesinnen aus der Walliser Gemeinde erhalten Tausende Ausländerinnen und Ausländer trotz eigentlich unbefristeter Arbeit befristete Arbeitsverträge. Damit werden sie formell zu Kurzaufenthalterinnen, wodurch sie leichter des Landes verwiesen werden können. Diese Strategie wird in der Wirtschaft zuweilen aktiv propagiert: Letztes Jahr empfahl FDP-Kantonsrat Gaudenz Zemp Luzerner Unternehmen, Arbeitsverträge für ausländische Angestellte auf 364 Tage zu befristen – und jährlich zu verlängern. Damit würde verhindert, dass ausländische Arbeitskräfte in der Not Sozialhilfe beziehen könnten (Tracia 2020). Diese Praxis ist rechtswidrig: Das Gesetz verbietet Kettenverträge, die dazu dienen, Menschen vom Bezug von Leistungen auszuschliessen. Dass Zemp auf Anfrage der Medien angab, die umstrittene Anweisung zuvor mit dem Leiter des Migrationsamtes des Kantons Luzern abgeklärt zu haben, verdeutlicht, wie missbräuchlich L-Bewilligungen mittlerweile erteilt werden.

Staatlich geförderte Prekarisierung

Die L-Bewilligung wird immer mehr zum Instrument der Prekarisierung von Menschen, die jahrelang in der Schweiz arbeiten, Beiträge an die Sozialversicherungen leisten und Steuern zahlen. Gemäss dem Staatssekretariat für Migration arbeiten in der Schweiz über 60 000 Menschen mit einer L-Bewilligung. Davon werden 20 000 zur «ständigen Wohnbevölkerung» gezählt: 17 000 kommen aus EU-EFTA-Staaten oder Grossbritannien, fast 4000 aus sogenannten Drittstaaten (SEM 2020). Stammen diese Menschen aus Staaten, mit denen die Schweiz eine Niederlassungsvereinbarung hat, haben sie bei einem Aufenthalt von mehr als fünf Jahren einen Anspruch auf die Niederlassungsbewilligung C. Doch die Migrationsbehörden klären die Betroffenen nicht über ihre Rechte auf und verweigern auf Nachfrage teilweise sogar die Aushändigung der entsprechenden Formulare.

Die Ämter tragen damit zu den prekären Lebensbedingungen der ausländischen Arbeitskräfte bei. L-Bewilligungen müssen mindestens einmal im Jahr erneuert werden. Das bedeutet für Betroffene nicht nur Unsicherheit, sondern auch einen grossen bürokratischen Aufwand und hohe Kosten – besonders für Familien, die für jedes Mitglied ein eigenes, kostenpflichtiges Gesuch stellen müssen. Darüber hinaus beeinträchtigt die L-Bewilligung die Chancen auf einen Mietvertrag, eine Weiterbildung oder eine Lehrstelle.

Stabile und sichere Aufenthalte schaffen Mehrwert

Das Ausländer- und Integrationsgesetz sollte die Integration fördern. Die Mittel für die Integrationsmassnahmen in den Kantonen wurden aufgestockt. Viele Bestimmungen setzen Ausländerinnen und Ausländer jedoch unter Dauerstress. Menschen, die sich ständig zwischen dem Arbeitsplatz und dem Migrationsamt bewegen müssen, können sich nicht entfalten. In diesem Punkt besteht grosser Handlungsbedarf. Behörden müssten Personen, die gemäss Niederlassungsvereinbarung Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung haben, rechtzeitig über ihre Rechte und Möglichkeiten informieren und ihnen die entsprechenden Formulare aushändigen. Die Arbeitgeber sind in der Pflicht, der rechtswidrigen Ausstellung befristeter Arbeitsverträge den Riegel zu schieben. Der Zugang zu den Einrichtungen der sozialen Sicherheit und Wohlfahrt muss allen möglich sein.

Literatur

Gashi, Hilmi, 2020, Kriza e koronës godet më së shumti migrantet/ët. In: Horizonte, Zeitung für die fremdsprachigen Mitglieder von Unia, albanische Ausgabe: 3.

Spescha, Marc, Andreas, Zünd, Bolzli, Peter, Constantin, Hruschka, De Weck, Fanny, 2019, Migrationsrecht. Kommentar. Zürich: Orell Füssli.

Staatssekretariat für Migration SEM, 2020, Total Bestand ausländische Wohnbevölkerung nach Kanton und Ausländergruppe am 30.11.2020. (Internetversion)

Triaca, Ladina, 2020, Luzerner Gewerbedirektor ruft zu illegaler Praxis auf! In: Blick, (Internetversion) https://www.blick.ch/politik/kettenvertraege-fuer-auslaendische-angestellte-luzerner-gewerbedirektor-ruft-zu-illegaler-praxis-auf-id16087425.html, 10.09.2020 (28.01.2021).

Erschienen in terra cognita, Juni 2021: terra cognita 37 | 2021 by terra-cognita – Issuu

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